RauteMusik traf sich am 14.03. in Regensburg mit Christian Neuburger, Sänger undFrontmann der Band Slut. Im Interview sprach er über überforderte Hausmeister, bildende Künstler und den Titel ihrer aktuellen Platte „Still No. 1“.
RauteMusik: Zunächst einmal vielen Dank, dass du dir Zeit für uns nimmst. Wir möchten gern mit einer Frage beginnen, die eigentlich nicht mehr ganz aktuell ist: Wie ist es so, wennzwei junge Bands gemeinsam auf einem Schloss proben bzw. wohnen?
Chris: Es hört sich erst mal ganz gut an, oder? Als ob da sehr viel passieren würde. Dem war auch so, aber irgendwann hatte es sich ein bisschen aufgelöst. Wirsind da alle sukzessive weggezogen und haben uns auf die Innenstadt Ingolstadts konzentriert. Es macht einfach keinen Sinn, in einer Kleinstadt wie Ingolstadt zu wohnen und dann noch vor den Torender Stadt. Deshalb sind wir in die Altstadt gezogen und haben das ganze auf mehrere Wohnungen verteilt. Aber die Konstellation gibt es eigentlich immer noch.
RauteMusik: Also ist es nicht so, wie das romantische Klischee, das man vor Augen hat?
Chris: Es war schon toll. Es war echt ne schöne Zeit. Wir hatten so ein Exotenleben damals. Auf diesem Schloss, wo du tun kannst, was du willst. Beispielsweise die ganzeNacht Lärm machen. Aber irgendwann muss jede Zehner- bis Zwölfer-WG zu Grunde gehen. Das war auch hier so. Es geht einfach nicht.
RauteMusik: Und an was ist es gescheitert?
Chris: Ich glaube es kamen einfach irgendwann zu viele fremde Leute dazu. Was heißt fremde… der Kern hatte sich irgendwann aufgelöst. Zu Spitzenzeiten warenwir zwölf Leute und haben teilweise zu Zweit in einem Zimmer gepennt. Dann gab es irgendwann einfach Reibereien. Bei jeder WG muss es einen Hausmeister geben. Der war immer überfordert undhat dann irgendwann die Flinte ins Korn geworfen und ab diesem Zeitpunkt ging alles drunter und drüber.
RauteMusik: Ihr seid jetzt bis August eigentlich konsequent auf Tour… Was vermisst man in dieser Zeit, was genießt man besonders?
Chris: Der Genuss steht im Vordergrund. Man hat ja oft genugZeit um zu Hause zu sitzen, insofern ist eine jede Tour wirklich ziemlich schön. Gerade so wie es jetzt läuft mit diesem großen Bus, in dem man schlafen kann und dann tagsüberZeit hat, um in den jeweiligen Städten was zu unternehmen. Das ist eigentlich Luxus pur. Was speziell uns jetzt fehlt, ist diese Heimeligkeit. Heute geht’s uns einigermaßen gut, weil wirirgendwo in Bayern sind. Das merkt man schon. Aber wenn man mal ein paar Tage da oben unterwegs ist, kommt einem schon ein bisschen was abhanden. Wir fahren dann auch schon gerne zwischendurch malheim. Normalerweise läuft es so: Eine Woche spielen, einen Off-day, wieder eine Woche spielen und so weiter. Das macht auch durchaus Sinn. Allzu lange sollte man sich nicht fern der Heimataufhalten. Das machen wir auch nicht gern.
RauteMusik: Habt ihr den Bus vom Label bekommen?
Chris: Den stellt die Touragentur. Wir konnten uns aussuchen, ob wir Hotels wollen und einen kleinen Bus, oder keine Hotels und dafür einen großen Bus. Das erweistsich so als effizienter, zumal wir jetzt mit zwölf Leuten unterwegs sind und noch die ganze Equipage. Das müsste sonst eigentlich auf zwei Busse verteilt werden.
RauteMusik: Du hast gesagt, wenn man so fern der Heimat ist, geht einem etwas ab. Was ist das genau? Das gute bayerische Bier, oder…?
Chris: Ja! (lacht) Ne… irgendwie dieses Aufgehobensein. Zu wissen, wo man hingehört. Das stellt sich bei manchem ab zu ein. Nicht bei jedem,um Gottes Willen, ich leide eher unter Fernweh, als unter Heimweh. Aber andere haben zum Beispiel heute die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und sind mit dem Zug nach Ingolstadt gefahren und umfünf wieder hier gewesen.
RauteMusik: Wenn ihr heute Abend hier in Regensburg spielt, ist das ja fast schon so etwas wie ein Heimspiel für euch. Macht das einen Unterschied?
Chris: Könnte man meinen. Man kalkuliert auf jeden Fall ein, dass einige Leute kommen, die man kennt. Auch aus Ingolstadt. Oder Ingolstädter, die mittlerweile inRegensburg leben. Insofern wird man sich nach dem Konzert noch einiges zu erzählen haben. Aber was den Rest des Publikums betrifft, da gibt es – glaub ich – keine Gesetzte. Das haben wir jetztauf der Tour erst wieder festgestellt. Zum Beispiel in Dresden, wo wir gestern waren, ist immer ein bisschen schwierig gewesen. Das hat sich als blanker Unsinn herausgestellt. Es war gestern einrauschendes Fest, ein Feuerwerk! Das hätten wir nie vermutet. Umgekehrt passiert es dann auch mal, dass man in Essen spielt, wo es eigentlich immer tip-top war und will das Publikum erarbeitet,erkämpft werden. Wie bei einem Fußballspiel. Wir haben dann schon 2:0 gewonnen (lacht), aber nur durch den Kampf im Spiel. Es ist wirklich immer schwereinzuschätzen und regional immens abhängig.
RauteMusik: Ihr habt ja für längere Zeit sozusagen die Bühne gewechselt und habt am Ingolstädter Theater Bertold Brechts „Dreigroschenoper“ begleitet. Wie hat euch diese Zeit musikalisch und menschlich geprägt, bzw. verändert.
Chris: Musikalisch glaube ich insofern, dass wirlernen mussten, mit anderen Gegebenheiten zu arbeiten. Wir waren da nicht die Nummer eins. Wir standen zwar auf der Bühne und haben Musik gemacht, aber wir mussten Musik für dieSchauspieler und für den ganzen Tross auf der Bühne spielen. Das waren immerhin 25 bis 30 Leute. Wir mussten uns unterordnen und ein Stück bedienen. Wir mussten mit fremder Musik, die80 Jahre alt war, etwas veranstalten, was zeitgemäß, zeitlos, laut/leise, groß/klein, also unterschiedlich und facettenreich ist. Das ist eine gute Schule, die wir da durchlaufen habenund es kam genau zum richtigen Zeitpunkt, denke ich. Wir haben uns da musikalisch schon etwas Neues erschlossen. Einen Bereich, oder Bezirk, der uns vorher unbekannt war. Mir ist das Theater zwarschon länger geläufig – ich hab schon zweimal fürs Theater Musik gemacht – aber der ganze Sauhaufen auf der Bühne eines Theaters, zusammen mit noch ein paar Schauspielern…Das war schon neu.
Ich glaub, auch die Musik, die wir da vertont haben, hat uns gelehrt, was man mit Musik alles machen kann. Wie man sie instrumentieren kann, wie man sie klein/groß halten kann, wie man sie indie Länge dehnen kann. Das war schon wichtig. Dass man Musik zum Beispiel auch inszenieren kann, wie ein Theaterstück. Dass man als Bandmitglied Regie führen kann und nicht nur vorsich hin dengelt. Das war schon eine ganz gute Erfahrung und das hat sich auch auf die neue Platte niedergeschlagen, indem wir mehrere Instrumente verwendet haben, indem wir die ganze Platte durchdramaturgisiert, oder auch schon fast inszeniert haben.
Menschlich hat sich da auch Einiges verändert. Es hat uns furchtbar eng zusammengeschweißt, weil wir in diesem Theater bestehen mussten. Da gelten andere Gesetze. Da gibt’s ne ganz klareHackordnung und Hierarchie, in der wir nicht ganz oben waren – okay, am Schluss waren wir’s doch. (grinst) Aber der größte Erfolg wird wohl der sein, dass aus dieserProduktion zwei Kinder und Paare hervorgegangen sind. Mein Bruder hat eine Dreigroschentänzerin, eine Brasilianerin, kennen elernt und hat jetzt einen Sohn mit ihr. Und mein bester Freund, mitdem ich ewig in der Schule war, hat auch eine Tänzerin kennen gelernt und die ist mittlerweile auch Mama und Ehefrau. Also insofern hat es doch sein Spuren hinterlassen. (lacht)
RauteMusik: Kurt Weill hat ja bei seiner Bearbeitung damals musikalisch viel vermischt und auch einige Seitenhiebe in Richtung Oper und Operette ausgeteilt. Hattet ihr bei eurenmusikalischen Überlegungen in irgendeiner Form Ähnliches im Sinn?
Chris: Ja… Dass man austeilt, textlich und musikalisch, war uns ja schon immer ein bisschen zu eigen. Aber was wir jetzt dadurch noch gelernt haben, waren nicht dieSeitenhiebe, sondern die Hakenschläge. Das ist auch ein großes Thema gewesen. Wenn man sich nicht die gängigen Gassenhauer der „Dreigroschenoper“ anhört,wie „Mackie Messer“, sondern vielleicht so komplexe Stücke wie das „Dreigroschen Finale“… das nimmt Wendungen, dieses Stück, innerhalbseiner fünf Minuten Laufzeit! Man möchte es nicht für möglich halten! Wie die Harmonien wechseln und auf einmal ganz andere Rhythmen ins Spiel kommen. Vom 4/4 in 3/4 und wiederzurück. Das haben wir nicht unbedingt übernommen, aber wir haben uns dadurch ermutigt gefühlt, es dem ein bisschen gleich zu tun. Man neigt ja sonst ja gerne mal dazu: Ein Lied mussdreieinhalb Minuten laufen, Schlagzeug setzt ein und hört wieder auf und es tut sich eigentlich nichts Großes. Oder: Warum muss die Gitarre von vorn bis hinten durchkegeln, wieso kann sienicht irgendetwas anderes machen? Oder: Wieso kann nicht mittendrin ein Akkordeon kommen? Diese Flexibilität und dieses „schnell mal die Richtung ändern“, hat uns Herr Weill glaub ich einbisschen gelehrt. Das hört man zum Beispiel auch bei „Better Living“, oder „Say Yes To Everything“. Das sind eigentlich so Versatzstücke,die aneinandergereiht ein Lied ergeben und ich glaube, das kommt so ein bisschen aus der „Dreigroschenoper“.
RauteMusik: Was hat die Dreigroschenoper bzw. was haben die Protagonisten der Dreigroschenoper mit Slut gemeinsam?
Chris: Irgendwer hat mal gesagt, dass die Texte Weills nicht nur in einem Suhrkamp-Heftchen stehen könnten, sondern auch auf Lederjacken oder Hauswänden. In diesemZusammenhang sprechen auch manche Literaturkritiker oder Theaterwissenschaftler von „Asphaltlyrik“. Das ist so ganz kernig-erdiges Zeug. Zumindest legt es immer noch den Finger in die Wunde. Das tunwir jetzt nicht so offensiv, wie es ein Herr Brecht tut. Wir vertonen es auch nicht so schräg und wirr, wie es ein Herr Weill tat. Aber ich glaube, auszuteilen, war irgendwo schon immer unserBestreben. Auch wenn es subkutan ist und erst mal nicht gehört wird. Ich finde es immer viel geschmeidiger, dass irgendwelchen Leuten unterzujubeln und die müssen dann feststellen, dass siegerade einen Text mitsingen, der genau sie im Visier hat. Das finde ich immer sehr befriedigend. Eher so auf die feine Art und Weise. Aber sonst… die Gemeinsamkeiten. Ich weiß nicht, essind 80 Jahre dazwischen, da ist eine Menge passiert und so auf einer Wellenlänge kann man da gar nicht mehr sein.
RauteMusik: Gibt es also keinen Mackie Messer bei Slut?
Chris: Ne… und wenn, dann nicht physisch (lacht), sondern eher metaphorisch/symbolistisch.
RauteMusik: Seid ihr froh, jetzt wieder eurer „gelernten Arbeit“ nachzugehen oder trauert ihr der Zeit am Theater noch hinterher?
Chris: Nicht sonderlich. Man hat schon irgendwann gemerkt,als das ein halbes Jahr gedauert hat und auf die Bühne kam, dass es uns einen Haufen Zeit kostet und uns davon abhält, eigene Lieder zu machen. Es war bei jedem so ein Bewusstsein imHinterkopf: Irgendwie werden wir gerade an etwas gehindert. Deswegen war auch der Druck, nachdem wir das abgespielt und die CD aufgenommen haben – und nur fünf Lieder veröffentlichendurften, statt dreizehn – was Eigenes zu machen so riesengroß. Wir haben uns sofort in den Proberaum begeben und es kamen wie von selbst, wie aus dem Ärmel geschüttelt schon die erstenzwei Lieder um die Ecke. Spätestens dann war klar: Freunde, wir haben was gefunden für die neue Platte! Das ging ja wohl flott, oder? Da war Dynamik. Auch dafür danke an die„Dreigroschenoper“, das sie diesen Druck aufgebaut hat, das wir was eigenes machen wollen. War echt gut! (grinst)
RauteMusik: Gab es etwas, das ihr nach der Zeit am Theater dann bei „Still No. 1“ bewusst anders gemacht habt, als bei denVorgängeralben?
Chris: Ich glaube schon. Wir haben vor allem eines nicht gemacht: Wir haben darauf verzichtet, das zu tun, was wir bei der letzten Platte gemacht haben, nämlich unsselber den Rahmen zu stecken, das man nur mit Schlagzeug, Bass und Stimme auskommen muss. Dass das das Maß aller Dinge ist. Dass das das Neon-Plus-Ultra ist. Damals hatten wir uns dasvorgenommen, hatten aber damit zu kämpfen. Jetzt gab’s kein Limit mehr. Wie groß das klingen sollte, war uns egal, Hauptsache jeder hat die Möglichkeit reinzupfeffern, was ihm soeinfällt. Jeder hat die Möglichkeit, den Sound zu verändern. Damit er eben nicht mehr so furztrocken, wie bei der letzten Platte, sondern – wie manche sagen – opulent ist. Und wirhaben uns auch instrumental nicht mehr beschränkt. Tasteninstrumente waren gerne gesehen und darüber hinaus Akkordeon, Streicher, Mandolinen, was da halt so kreuchte und fleuchte. Da hattenwir keinerlei Berührungsängste mehr, weil wir halt auch in der „Dreigroschenoper“ genötigt waren in gewissen Passagen Instrumente zum Einsatz zu bringen, diebisher so ganz und gar nicht in dem Slut-Kosmos vorkamen. Und jetzt ist es halt so, dass ich auch ein bisschen Akkordeon spielen kann, weil du am Theater jemanden nicht immer nur mit der Gitarrebegeleiten kannst. Das ist irgendwann durch. Dann greifst du auf etwas anderes zurück. Also auch da wirkte sie nachhaltig, die „Dreigroschenoper“. Außerdem kommthinzu, dass wir wesentlich demokratischer Vorgegangen sind, beim Lieder machen und beim Lieder aufnehmen. Speziell beim Lieder aufnehmen. Dass jeder eigentlich machen durfte, was er wollte. Ohne,dass groß diskutiert wurde. Es wurde stets musiziert. Das war so die große Vorgabe. Das ist ein riesen Unterschied zu früher.
RauteMusik: War es bisher also so, dass ihr einen Leitwolf hattet, der die Richtung vorgegeben hat?
Chris: Ein bisschen. Ein bisschen war ich das. Was nicht schlimm war, aber ich glaube, es ist viel mehr möglich, wenn man alle mit einbezieht. Man muss es schon irgendwiesteuern. Es muss in jeder Produktion einen Regisseur geben. Aber es ist die Frage, inwieweit der sich in den Vordergrund spielt oder zurück nimmt. Und das war glaub ich diesmal sehr entscheidendund hat alle anderen sehr ermutigt. Spätestens bei den Aufnahmen in Berlin hat man dann gemerkt, was das für einen Effekt hatte. Da wurde nicht mehr geredet: „So, was kannman jetzt mit der Gitarre machen? Schlagzeug, Bass und Gitarre sind fertig, was macht die Zweite?“ Da war einfach blindes Vertrauen. Einer hat die Gitarre eingespielt, hat die Tür desAufnahmeraums aufgerissen und hat gesagt „Nächster bitte!“ und dann kam halt der zweite Gitarrist und hat gesagt: „Ich hab da schon was. Ich hab dieganze Zeit zugehört.“ Und der andere ist raus gegangen und hat sich einfach zurückgehalten. Das war toll. Echt ne ungeahnte, unbekannte Dynamik.
RauteMusik: Das Cover von „Still No.1“ ist ja sehr extravagant. Gibt es da eine besondere Geschichte zu?
Chris: Ja! Wir dachten uns, als wir da in Berlin Kreuzbergsaßen und die Platte zur Hälfte fertig war, einem derart breiten musikalischen Spektrum muss man auch ein breites Optisches an die Seite stellen. Also, wenn es viel zu hören gibt, musses auch viel zu gucken geben. Das war so unsern Credo und insofern kam man recht schnell auf den Begriff Gemälde. Kein Typo-Bild mehr nur mit Schrift, keine minimalistische Lösung mehr sowie früher, sondern erst mal viel. Das war die Maßgabe. Dann haben wir uns in Berlin umgesehen – da soll es ja ein paar Künstler geben! (grinst) Ich hab’s mirübrigens neulich erzählen lassen. Es gibt in Berlin 90.000 bildende Künstler. 90.000! Und 4.000 können davon leben. Nur so viel dazu. Einen von diesen 4.000 haben wir gefunden. Ineinem Kunstkatalog. Wir haben vorher Ausstellungen besucht, Galerien angeguckt und nirgendwo was gefunden. Heutzutage ein zeitgenössisches Gemälde zu finden, das irgendwie passt… Garnicht so einfach! Wir haben ihn also in einem Kunstkatalog entdeckt.
Der Maler heißt Sigurd Wendland, ist ca. Ende 50 und hat all diese Bilder, die wir von ihm rechtlich bekommen haben – drei, oder vier an der Zahl – großformatig auf Leinwand gemalt. Der hatuns – den René und mich – dann gleich in sein Atelier eingeladen, wir haben Kaffee getrunken, Zigaretten geraucht und seine Bilder angeschaut. Wir haben alle durchgeblättert und wir durftenecht wählen. Er war von Anfang an begeistert von dieser Kooperation. Wir haben drei ausgesucht, eins fürs Album, zwei für die Singles. Ein viertes bekommen wir jetzt auch noch. Ichfinde es ist eigentlich eine ganz gute Mischung: Erstens die Musik, zweitens der Titel, drittens das Plattencover und alles drei ergibt so eine Melange, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt immernoch relativ stimmig ist. Also, mich schauen so junge Leute an, die sich wegducken, das Bild heißt „Volle Deckung“. Die halten irgendwelche komischen Micky Maus Fratzenin die Kamera und wollen was von dir, fordern was. Und ich glaub, dasselbe tut auch die Musik. Die Platte kann man nicht beim Abspülen oder beim Bügeln hören. Da muss man sich wirklichhinsetzten und die Texte lesen und alles vier, fünf mal hören und dann weiß man, wo die Reise hingeht.
Genauso ist es mit dem Bild. Da kannst du nicht einfach drüber gucken und „Hm… Farben gefallen mir nicht, weg damit!“, sondern es ist auch eine ArtAuseinandersetzung, die dieses Bild von einem verlangt und insofern finden wir es immer noch sehr stimmig. Jetzt ist sogar gerade noch eine weitergehende Kooperation mit Sigurd Wendland geplant. Derruft ungefähr jeden dritten Tag an, weil er so viele Ideen hat. (lacht) Er will mit uns jetzt eine Tour durch deutsche Galerien machen. Das heißt, er stellt aus, wirspielen vier oder fünf Songs. Nur unplugged, also mit kleinem Besteck. Das ist eigentlich ganz cool. In Lissabon hat er jetzt auch noch eine Ausstellung, mal gucken, ob wir da auch mitspielen.Der ist echt super!
RauteMusik: Man hört raus, dass du richtig stolz auf das Album bist, oder?
Chris: Nicht stolz, aber ich bin immer noch sehr überrascht.
RauteMusik: Findest du, dass es euer bestes Album ist?
Chris: Das würde ich nicht sagen. Ich bin einfach so verwundert, dass es auf einmal vor der Tür gestanden ist. Normalerweise stehst du bei null, denkst dir„Was machen wir jetzt?“ Du spielst ein Lied und da sagt jeder… bäh! Dann spielst du noch eins und noch eins und es dauert Wochen, Monate bis irgendwas daherkommt.Und dieses Mal war es halt so: „Machen wir ne neue Platte?“ – „Ja, wir machen ne neue Platte!“ – „Hat jeder sein Instrument? One, Two,Three, Four…“ Und: „Das gibt’s ja nicht!“ Das war meine erste Erfahrung mit Musik, die ich so unkontrolliert gemacht hab, ohne das was steuern wollte, oder dasich dachte, ich muss jetzt was tun, sonst wird das nichts. Ich bin nicht stolz auf das Album, aber ich staune. Ich weiß auch nicht, ob es gut ist. Es ist anders. Das ist mir immer vielwichtiger. Ob die Leute es mögen kann ich nicht entscheiden, das müssen die dann machen.
RauteMusik: Euch gibt es jetzt seit über einem Jahrzehnt und ihr wart eigentlich von Anfang an erfolgreich. Gibt es da einen Bezug zu dem Titel eures Albums?
Chris: Nee. Wir haben über den Plattentitel lang geredet. Zuerst sollte sie „Say Yes To Everything“ heißen, aber das war uns zu lang und zuironisch. Wir wollten nicht immer diesen doppelten Boden und uns immer ein Hintertürchen offen halten. Genauso „Nothing Will Go Wrong“ oder „All You NeedIs Silence“ das ist so doppelzüngig. „Still No. 1“ könnte man jetzt werten als klare Ansage und sich denken: „Was sind das denn fürArschlöcher?!“ Das könnte man meinen und wenn wir das so verstanden hätten wissen wollen, dann hätten wir wahrscheinlich ein Foto von uns aufs Cover gepackt. Dann wäreder Fall klar gewesen. So ist es definitiv anders zu erklären.
Das wichtigste Lied ist wieder einmal zum Taufpaten geworden und das ist eben „Still No. 1“. Und wenn man sich den Text durchliest, kommt auch eine ganz andere Sinnhaftigkeitzutage. Da heißt es sinngemäß: „Was immer es braucht um abzustumpfen, ich bin dabei!“ Also eigentlich vice versa von der eigentlichen Behauptung, die manannehmen könnte. Aber es gab schon da viele Lesarten in den ganzen Interviews, die wir jetzt gegeben haben. Irgendwer hat mal gesagt: „Ach stimmt, das heißt „Still No One“,also immer noch alleine!“ – Dankeschön, aber auch gut! (lacht) Und irgendwer hat mal gemeint: Still im Sinne von Film, also Bilder aneinanderreihen.
RauteMusik: Da werden die Leute ja richtig kreativ…
Chris: Ja, voll! Also, nicht, dass wir das gewollt hätten. Aber ich find es immer lustig, was da so an Fragen kommt.
RauteMusik: Nach der langen Phase am Theater bringt ihr euer Album zu einer Zeit auf den Markt, in der Indie-Rock eine Art Boom erlebt. Hatten die günstigenVermarktungsaussichten Einfluss auf die Entscheidung wieder ins Rock-Business zurück zu kehren, oder war das mehr eine musikalische Gewissensentscheidung?
Chris: Eigentlich eher das. Einerseits weiß ich nicht,inwieweit wir jetzt wirklich in diese Indie-Rock-Schiene reinpassen und was diese Marktmechanismen betrifft, da bin ich definitiv der falsche Ansprechpartner, denn die sind mir alles andere alsgeläufig. Wenn’s um neue Bands, oder um irgendeine Richtung/Strömung und so weiter geht, bin ich der erste, der nicht bescheid weiß. Überhaupt nicht. Das hat einfach den ganznormalen zeitliche Ablauf genommen. Ein Jahr „Dreigroschenoper“, dann ein dreiviertel Jahr in Ingolstadt im Proberaum, eine kleine Tour um die neuen Lieder auszuprobieren unddann ins Studio. Das war so das Prozedere. Aber inwieweit wir uns da platziert haben, in diesem musikalischen Zirkus, wüsste ich jetzt gar nicht zu sagen.
Ein paar Kritiken habe ich über die neue Platte gelesen und stelle fest, dass jeder sagt, es wäre so ein bisschen außen vor. Es fällt scheinbar jedem einigermaßen schwer, siezu kategorisieren. Es ist ja auch kein Brit-Pop oder was jetzt grad auf der Insel oder in Amerika angesagt ist. Auch keine von diesen Deutsch-Rock-Geschichten. Ich weiß nicht… Am Bestenhat mir der Satz gefallen, dass wir mit dieser neuen Platte so herrlich weit weg sind von allem anderen. Ich weiß nicht, ob der, der es geschrieben hat, das als Kritik gemeint hat, aber fürmich ist es ist ein großes Lob. Wir haben eben nicht eine Platte für diesen Zirkus geliefert, sondern eine Platte, die uns sinnhaft erscheint. Das kann ich auch dadurch untermauern undglaubhaft bezeugen, dass ich mit vielen der Lieder solche Schwierigkeiten hatte, während alle anderen gesagt haben: „Sag mal spinnst Du? Das ist doch spitze!“ Und ichdachte mir nur: „Ich weiß nicht. Ich kenn solche Musik nicht, die ist mir echt fremd. Und was ich da sing, das versteh ich auch nicht ganz. Auch die Melodie und so. Das hab ichnoch nie gemacht, soll ich weitermachen?“ – „Ja sicher! Das ist genau das, was wir jetzt machen müssen!“
Und dadurch, dass ich weiß, das alle anderen Musik hören, die immer zielgerichtet am Trend vorbeigeht, glaube ich nicht, dass wir jetzt irgendeine Nische gefunden und bedient haben oder unsumgehört haben, was man jetzt so macht, um dann diese Platte aufzunehmen. Im Gegenteil, dafür bist du in Ingolstadt viel zu sehr im Off und in Berlin, bei der Aufnahme war es eh schon zuspät. Da haben wir es einfach reingeklopft und fertig. Ich glaube nicht, dass wir den Markt beobachtet und entsprechend reagiert haben. Um Gottes Willen! (lacht)
RauteMusik: Heißt das, dass du die Musik eigentlich privat gar nicht so hörst?
Chris: Nee. Ich hör echt ne ganz andere Musik. Das wird mir auch immer vorgehalten, aber ich finde, das hat auch immer seinen Nutzen und seinen Niederschlag.
RauteMusik: Bertold Brecht sagt zur Aufführung der „Dreigroschenoper“: „Sie werden jetzt eine Oper hören.Weil diese Oper so prunkvoll gedacht war, wie nur Bettler sie erträumen, und weil sie so billig sein sollte, dass Bettler sie bezahlen können, heisst sie „DieDreigroschenoper“. Was hören wir heut Abend von Slut?
Chris: (grinst) Alles außer der „Dreigroschenoper“. So mancher mag Etwas durchspüren/fühlen, aber ich glaube, wenn es hoch kommt,spielen wir den „Mackie Messer“. (lacht) Wir wollen uns den Schuh nicht anziehen lassen, dass wir jetzt in der Hochkultur versumpft wären oder nurnoch bestuhlte Konzerte geben wollen. Da wollen wir die Leute eines Besseren belehren, wenn es uns gelingt. Aber der Satz ist sehr bezeichnend. Da läuft es mir grad eiskalt den Rückenrunter, weil damals ging so immer das Stück los. Er hat das immer folgendermaßen vorgelesen: „Heißt sie…“ – das war für mich der Einsatz, Keyboardton- „… die „Dreigroschenoper“ Und dann legte mein Bruder am Schlagzeug los. Es ist lange her, aber weckt Erinnerungen. (lacht)
RauteMusik: Okay. Dann wünschen wir euch viel Erfolg heute! Noch mal danke für das Interview und viel Spaß auf der Bühne!