Homosexualität und die Religion

„Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau, es ist einGräuel. (…) Denn alle, die solche Gräuel tun werden ausgerottet werden aus ihrem Volk.“ Lev 18, 22-29
Schwul und trotzdem gläubig – geht das überhaupt, wenn sich die Kirchen so drastisch ausdrücken? Beim Thema der Woche versuchen wir der Sache auf den Grund zu gehen.

CHRISTENTUM

Gleichgeschlechtliche Liebe – ein Gräuel? Das zumindest drückt das Bibelzitat aus dem zweiten Buch Mose aus – eine häufig zitierte Passage, wenn die Kirche zur HomosexualitätStellung nimmt. Dass derartig drastische Positionen einen jungen Menschen, der sein Coming Out plant, in einen Zwiespalt geraten lassen, ist leicht nachvollziehbar. Wer selbst religiös ist,beginnt sich Gedanken zu machen, ob die eigene Religion dann überhaupt noch zu einem passt – dabei drückt sich die Bibel längst nicht so drastisch aus wie Papst Benedikt XVI. Und werin einem religiösen Umfeld lebt sucht nach Argumenten um Zitat-Angriffen etwas entgegensetzen zu können.

Homosexualität in der Bibel

Wer denkt es gäbe in der Bibel keine Hinweise auf Homosexualität, der irrt. Die Texte der Bibel wurden in einer völlig anderen Zeit für ein völlig anderes Publikum, als wires heute sind verfasst, von Menschen, die mit ihren Formulierungen etwas ganz bestimmtes bezwecken wollten. Ihr Schwerpunkt war sicher nicht, über gleichgeschlechtliche Liebe zu berichten, dennwenn Familienverhältnisse in der Bibel aufgegriffen werden, dann meist um Abstammungen deutlich zu machen und auf Prophezeiungen einzugehen. Da Homosexuelle aber (zumindest miteinander) keineNachfahren haben konnten waren sie für die Bibel nicht relevant.

Selten finden sich aber doch noch Hinweise, zum Beispiel im Buch Ruth (1,16 ff), als sie zu Noemi sagt: „Wo du hingehst, da will auch ich hingehen; wo du bleibst da bleibe ich auch.(…) Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.“ Oder in der Beschreibung der Beziehung von David und Jonathan (2. Samuel 1,26): „Ich habegroße Freude und Wonne an dir gehabt; deine Liebe ist mir wundersamer gewesen, als jede Frauenliebe.“

David und Jonathan

Bibelkritik und christliches Verständnis

Die Gebote der Bibel sind heutzutage längst nicht mehr als wörtliche Vorschrift anzusehen, selbst Mädchen aus religiösen Familien werden schließlich nicht mehr zu Todegesteinigt, falls sie vor der Ehe ihre Jungfräulichkeit verlieren. Religion basiert auf persönlichen Gotteserfahrungen – und die können vor 2000 und mehr Jahren sicher nicht diegleichen wie heute gewesen sein.

Damals waren Zöllner Sünder, dennoch hat kein Zollbeamter heutzutage Glaubenskonflikte. Und Jesus, auf dem das Christentum nun mal basiert, fiel dadurch auf, dass er sich entgegen dem Geistseiner Zeit mit „Unreinen“ und „Sündern“ umgab. Laut Jesus war das Reich Gottes und des Glaubens für sie mindestens genauso offen, wie für die braven, stets Regeltreuen anderen.Dennoch ist der offizielle Konsens der katholischen Kirche noch immer, dass homosexuelles Verhalten wider die Natur sei und die Schöpfung gefährde. Aber deshalb muss ein Coming Out nochlange nicht zu einem religiösen Gewissenskonflikt führen.

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ISLAM

Der Islam legt seine Gebote noch deutlicher als das Christentum gegen Homosexualität aus. In einigen Ländern der Welt steht darauf sogar die Todesstrafe, einige andere belassen es „nur“ beiAuspeitschungen oder Gefängnisstrafen. Inwiefern allein das mit modernen Freiheitsbegriffen vereinbar ist, ist eine andere Frage. Tatsächlich gilt ausgelebte Homosexualität auch imIslam als schwere Sünde, die Praxis sah aber gerade im Orient sehr anders aus. Hübsche Jungen wurden von Machthabern untereinander verschenkt, in den Badehäusern gab es männlicheProstituierte fürs männliche Publikum und nicht ganz umsonst existieren die Begriffe „Persisch“ oder „Türkisch“ bis heute als Synonyme für Analsex.

Durch die Allgegenwart der homosexuellen Praxis war es bis zum 19. Jahrhundert nie notwendig, sich auf ein homosexuelles Leben zu beschränken. Outings waren überflüssig, man konnteeine Familie haben wie jeder andere und trotzdem gleichgeschlechtliche Beziehungen pflegen. Heute findet all das eher im Verborgenen statt. Dabei sollte eigentlich klar sein, dass Gottes Wort wederfür noch gegen Homosexualität sein kann, denn alle Überlieferungen sind Interpretationen der Menschen und spiegeln damit deren Einstellung und Erfahrungen wieder. Homosexualitäterobert sich innerhalb des Islam nur langsam eine Stellung. Mittlerweile gibt es die ersten schwulen Imame in westlichen Ländern, die ihren Glauben und ihre sexuelle Identität scheinbarnicht im Widerspruch sehen.

geschrieben von Aurelia Hübner
gesprochen von Adrian Kaesberg

Bildquelle:
wikipedia.de

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