Das „Apocalypse Now“ der Videospiele!
Was? Ein Militär-Shooter aus Deutschland, der sogar unzensiert in Deutschland erscheinen darf? Das musste ich mir genauer anschauen. Ob „Spec Ops: The Line“ auch eure Aufmerksamkeit verdient, verrät das folgende Review.
Ich geb’s zu: Ursprünglich wollte ich „Spec Ops: The Line“ nur deshalb reviewen, weil das gefürchtete Sommerloch bevor stand und ich einen geeigneten Lückenfüller brauchte, um die Zeit bis „Risen 2“ zu überbrücken. Als ich mein Testmuster aus dem Briefkasten holte und kurz darauf in das Laufwerk meiner Konsole schob, konnte ich nicht ahnen, dass mir die bisher größte Videospiel-Überraschung des Jahres bevorstehen sollte. Im positiven Sinne.
Wüste Stimmung
Im Unterschied zu anderen Militär-Shootern liefert „Spec Ops: The Line“ kein konventionelles Kriegsszenario, sondern beginnt mit einer zünftigen Katastrophe: Die arabische Metropole Dubai wird von den schwersten Sandstürmen ihrer Geschichte heimgesucht. Die politische und finanzielle Elite, von der die Gefahr der Sandstürme über Monate heruntergespielt wurde, hat sich längst abgesetzt und das Land und seine Bewohner dem Chaos überlassen. Aus diesem Grund meldet sich Colonel John Konrad des 33. Batallions der U.S. Army, das gerade erst aus Afghanistan abgezogen ist, freiwillig, um in Dubai Recht und Ordnung zu wahren und die lokale Bevölkerung zu unterstützen. Als Washington jedoch befiehlt, die humanitären Maßnahmen einzustellen und abzuziehen, desertiert das gesamte Batallion und verhängt das Kriegsrecht über die Stadt. Die Vereinigten Arabischen Emirate erklären Dubai daraufhin zum Niemandsland, während das 33. Batallion formell von der US-Regierung wegen Hochverrats aufgelöst wird.
Von diesem Zeitpunkt an war die einst schillernde Metropole abgeschottet – bis ein Notsignal von Colonel Konrad den Wall der wütenden Sandstürme durchdringt. Als Reaktion schicken die USA insgeheim ein Delta-Force-Team nach Dubai, um die Situation zu klären. Es hätte eine simple Kundschaftermission werden sollen, aber schon kurz, nachdem sie die Stadtgrenze passiert haben, müssen die Soldaten Walker, Adams und Lugo ihr Leben inmitten eines blutigen Konfliktes verteidigen, von dem in der Außenwelt niemand weiß und den sie erst allmählich zu verstehen beginnen.
Nach dieser kurzen Einführung in das krisengebeutelte Szenario von „Spec Ops: The Line“ könnte man eigentlich annehmen, dass hier Standardkost vom „Modern Warfare“-Fließband wartet. Amerikaner, die in einem arabischen Land gegen Deserteure und andere böse Menschen kämpfen – das ist bewährt, das verkauft sich (vor allem auf dem nordamerikanischen Markt). Hätte der kleine Entwickler Yager Development GmbH schnelles Geld auf dem Rücken anspruchsloser Shooter-Fans verdienen wollen, hätte er genau so ein Spiel produziert. Nur hatte das deutsche Studio völlig andere, aus kommerzieller Sicht ziemlich riskante Pläne – zu unser aller Glück.
Schon im Vorfeld wurde „Spec Ops: The Line“ mit etlichen Vorschusslorbeeren eingedeckt, darunter ein inhaltlicher Vergleich mit dem Filmklassiker „Apocalypse Now“. Ich kann diesen Vergleich nur unterstreichen, denn auch wenn die Entwickler nicht (und wenn, dann nicht zu offensichtlich) von „Apocalypse Now“ geklaut haben, schlägt ihre Botschaft in die gleiche Kerbe. Während die Kampagne wie der typisch pro-amerikanische „Call of Duty“-Klon beginnt, weicht die anfängliche „Yes Sir! Oorah!“-Euphorie bald emotionaler Erschöpfung und blankem Entsetzen.
Eine inhaltliche Besonderheit von „Spec Ops: The Line“ ist so simpel wie radikal: Der überwiegende Teil der Gräueltaten und Kriegsverbrechen wird in diesem Spiel von Amerikanern begannen – nein, nicht bloß von Amerikanern, sondern von jenen „Helden in Uniform“, die in den Staaten so gerne glorifiziert werden. Das Volk von Dubai besteht nicht aus stereotypen Terroristen, die den edlen westlichen Befreiern ans Leder wollen, sondern fungiert ausschließlich als deren Spielball, der nach Belieben benutzt und missbraucht wird. Amerikaner bekriegen Amerikaner, während die arabischen Zivilisten zwischen den Fronten zerrieben werden – das ist ein Novum in einer Branche, die größte Angst davor hat, den amerikanischen Markt zu provozieren. Ich habe jedenfalls den größten Respekt vor einem Entwickler, der nicht davor scheut, den patriotischen US-Durchschnittsbürger zu vergrämen.
„Spec Ops: The Line“ hat durch seine Thematik und Umsetzung durchaus das Zeug, in den Staaten für mehr Kontroversen zu sorgen, als es das Flughafen-Massaker eines „Call of Duty“ je gekonnt hätte, weil es zeigt: Am Ende des Tages verändert Krieg jeden – sogar die gefeierten Helden der U.S. Army. Nicht nur, dass das 33. Batallion zunehmend vom Retter zum Besatzer avanciert, auch das Delta-Force-Team muss tief in menschliche Abgründe blicken. Gehen sie anfangs noch diszipliniert nach militärischem Protokoll vor, wird selbiges rasch über Bord geworfen, als sich die Lage zuspitzt, und auch das Verhältnis der drei Soldaten zueinander verdunkelt sich zusehends – und das nicht auf übermäßig dramatische, sondern auf authentische, auf „menschliche“ Weise.
Stürmische Umsetzung
Die gelungene Inhaltliche Umsetzung von Spec Ops wird durch eine wunderbar stimmige Präsentation abgerundet. Optisch kann das Spiel zwar nicht mit einem „Crysis 3“ oder „Resident Evil 6“ mithalten – vor allem die Charaktermodelle haben ein gewisses Uncanny-Valley-Flair -, doch das Design des zerstörten Dubai ist glaubwürdig und allerlei hübsche Grafik-Effekte verschönern euch den virtuellen Kriegsalltag. Besonders hervorheben möchte ich den Soundtrack. Hier wird keine auf Episch getrimmte Orchestermusik geboten, wie es in so vielen modernen Shootern üblich ist, sondern stattdessen auf- neben – mit Musik gesetzt, die den psychodelischen Faktor der Story mehr als unterstreichen. Abseits der atmosphärischen Hintergrundmusik wurden auch einige Songs bekannter Namen wie Deep Purple, Jimi Hendrix oder Björk lizenziert, die sich nahtlos ins bestehende Sound-Design einfügen. All diese inhaltlichen und audiovisuellen Elemente machen „Spec Ops: The Line“ zu einem emotionalen Trip, der unter zeitgenössischen Shootern einzigartig ist.
Leider steht den inhaltlichen Stärken von „Spec Ops: The Line“ insbesondere eine kleine, aber entscheidende Schwäche im Gameplay-Bereich gegenüber. Wie bei allen Spiele, die ich teste, entschied ich mich zu Beginn für den mittleren, „normalen“ Schwierigkeitsgrad – ohne zu wissen, welch Frust mich in den kommenden Stunden erwarten würde. Was Yager unter einem „normalen“ Schwierigkeitsgrad versteht, ist nicht normal. Ironischerweise habe ich, ehe ich „Spec Ops: The Line“ aus dem Briefkasten fischte, am gleichen Nachmittag „Call of Duty: Modern Warfare 3“ auf „Veteran“ durchgespielt – und muss im direkten Vergleich klar sagen, dass es nur minimal härter als „Spec Ops: The Line“ auf dem normalen Setting war. Liebe Entwickler: Titel wie „Dark Souls“ sind kein Maßstab für einen ausgeglichenen Schwierigkeitsgrad. „Normal“ bedeutet, dass sich der Verbraucher die „normale“ Spielerfahrung wünscht – nicht aber, dass man nach vier bis fünf Treffern schon ins Gras beißt.
Derzeit leidet „Spec Ops: The Line“ zumindest in der mir vorliegenden PS3-Version zudem leider noch an einigen Bugs. Ich musste beispielsweise zweimal meinen letzten Checkpoint neu laden, weil gescriptete Events (wie Cutscenes) nicht eingeleitet wurden und ich daher nicht weiterkam. Auch stockt die Framerate, wenn viel Action den Bildschirm ziert, was sich spürbar auf die Responsivität des Controllers auswirkt. Auch stellt sich manchmal unschönes Tearing im oberen Drittel des Bildschirms ein, das man kaum ignorieren kann.
Der Multiplayer-Modus bietet, im Vergleich zur Kampagne, das übliche Shooter-Reportuare. Nett gemacht, durchaus spannend, aber kein Highlight. Ein „Gears of War 3“ muss sich mit Sicherheit nicht vor der Konkurrenz aus Deutschland fürchten. Leider bietet „Spec Ops: The Line“ keinen Coop-Modus „out of the Box“, obwohl sich ein solcher geradezu angeboten hätte, allerdings kündigte 2K an, eigene Coop-Missionen als DLC nachzuliefern. Ein Hoch auf die stets prallen Zitzen der Cash-Cow Gamer!
Fazit, Sebastian Meinke
Viele Publisher wollten ihre Produkte schon als Antikriegsspiele vermarkten, aber herausgekommen ist quasi immer ein reines Unterhaltungsprodukt mit fadenscheiniger „Krieg ist böse“-Message. Unterhalten soll „Spec Ops: The Line“ unterm Strich zwar auch, doch ist es der erste Shooter, dem ich die Antikriegshaltung wirklich abnehme. Obwohl es technisch nicht annähernd so auf Hochglanz poliert wurde wie diverse Konkurrenten, lohnt sich der Kauf von „Spec Ops: The Line“ allemal – und zwar nicht nur für hartgesottene Genre-Fans.
Schlagworte: 2K, Krieg, Playstation 3, PS3, Review, Shooter, Sony, Spec Ops, The Line, Yager