Der Untergang des virtuellen Abendlandes
Ich bin depressiv. Nach außen wirke ich meist fröhlich, doch es ist wahr. Meine Seele verdunkelt sich in regelmäßigen Abständen. Zwei Mal täglich, an vier Tagen in der Woche, für 35 Minuten am Stück. Manchmal ist es auch weniger, doch das ist selten. Nur wenn ich mich beeile – aber wer will das schon, wenn man depressiv ist?
In the zone
Wann es wieder so weit sein wird, weiß ich genau – mein Stundenplan an der Uni gibt es mir vor. Sobald ich mich das nächste Mal auf den Weg zum Campus machen werde, wird es wieder passieren. Sobald ich mich in mein Auto setze und den Gurt anlege, sobald ich den Zündschlüssel umdrehe und meine CD anspringt, ist es wieder so weit. Es ist immer das Gleiche, denn ich höre das immer gleiche Lied. Noch bevor ich überhaupt den Motor anmache, ertönen aus den Boxen bereits die ersten Takte der gemütlichen Drum’n’Bass-Melodie. Sie bleiben einige Sekunden stehen, bevor sich schließlich diese sphärische Hintergrundmelodie dazugesellt, die mich wieder so sehr in meine dunkle Welt ziehen wird. Man muss es selber gehört haben. Man muss es hören, um diesen Text zu verstehen.
Sobald ich zu diesem Lied auf der Straße unterwegs bin, fühle ich mich nicht mehr im Hier und Jetzt. Ich sehe die Dinge nicht, wie ich sie sonst sehe – all die Schilder, Autos und Lichter. Stattdessen sitze ich in meiner Fahrerkabine und bin in die Vergangenheit gereist. In das Jahr 1998, wo der Song mit „Need For Speed: Brennender Asphalt“ seinen Ursprung hat. Das ist mittlerweile 13 Jahre her und in der Serienchronologie unglaubliche 14 Teile vor dem aktuellsten „Need For Speed“-Titel – „The Run“ – der am 17. November 2011 veröffentlicht werden wird. 35 Minuten Nostalgie pur, denn so lange brauche ich für die 42 Kilometer zwischen meinem zu Hause und der Uni.
„Need For Speed: Brennender Asphalt“ ist für mich das Ideal von einem Rennspiel. Kein anderes hat mich so begeistert, geradezu verzaubert und kein anderes hat mich dermaßen nachhaltig geprägt. Während die Synthie-Klänge von „Callista“ durch mein Auto wandern, sehe ich immer wieder wie in Trance die Bruchstücke meiner Erinnerungen vor mir. Ich sehe die atemberaubenden Strecken und die exotischen Autos. Erinnere mich, wie sehr ich dieses Rennspiel und seine ganz eigene Art geliebt habe, während mir das Herz schwer wird.
1998 war ich acht Jahre alt und sollte es damals als Geburtstagsgeschenk in den Händen halten – ich hatte es mir gewünscht. Meine Eltern hatten es schon einige Tage vorher gekauft und in einem Küchenschrank versteckt, an den ich nicht so leicht rankommen konnte. Immer wenn ich alleine zu Hause war, bin ich trotzdem an den Schrank geklettert, um es heimlich spielen zu können. Ganz so, als ob es mich magisch anzog. Nur für eine halbe Stunde habe ich mich dem Zauber hingegeben, um es anschließend wieder sorgfältig an seinen Ursprungsort zurückzulegen.
World long gone
Weshalb ich jedes Mal so wehmütig werde, wenn ich im Auto dieses 13 Jahre alte Lied höre, hängt vermutlich mit zwei Gründen zusammen. Zum einen sind es die Erinnerungen an die frühe Kindheit. Es mag merkwürdig klingen, wenn ein 21-Jähriger seiner eigenen Jugend hinterhertrauert, schließlich hat er noch fast sein ganzes Leben vor sich. Doch Dinge haben sich zwangsläufig geändert. Man lebt nicht mehr in der wohlbehüteten Welt eines Grundschülers und man lebt schon gar nicht mehr in den Tag hinein. Was allerdings am relevantesten ist: Mich beschleicht das Gefühl, dass ich einfach nicht mehr dieselbe Beziehung zu Videospielen habe, wie es einst einmal war.
Vielleicht ist es ein natürlicher Prozess. Das Erwachsenwerden eines Jugendlichen und der damit verbundene Wandel von Interessen. Denn dieses Gefühl, in der Schule zu sitzen und jeden freien Gedanken an das neue Spiel zu verschwenden, das zu Hause sehnsüchtig auf einen wartet – es ist weg. Einfach verschwunden. Das Strahlen in den Augen, wenn man es in den Händen hielt und der verlockende Geruch von frisch-gedrucktem Handbuch in der Nase kitzelte – perdu. Ich wollte mir all das für immer bewahren und es anders machen. Anders als all die Erwachsen-gewordenen, die so grundlos ihre Passion für das Spielen verloren zu haben schienen. Die Tatsache, dass es mir nun doch, zumindest teilweise, abhanden kam, lässt mir wenig Raum für blumige Gedanken.
Doch ich vermute, das ist nicht der Hauptgrund für meine regelmäßige Quarterlife-Crysis. Viel mehr ist es der Gedanke – nein, der traurige Glaube daran, dass Spiele wie mein geliebtes „Need for Speed: Brennender Asphalt“ Relikte der Vergangenheit sind. Wir befinden uns im Untergang des virtuellen Abendlandes.
Spielen ist Mainstream
Es scheint eine provokante These, wenn man sich die massiven Verkaufszahlen von Giganten wie „Battlefield“, „Call of Duty“, „FIFA“ und Co anschaut. Videospiele sind endlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Egal ob jung oder alt, ob Männlein oder Fräulein – die Industrie hat mittlerweile alle Bereiche erschlossen. Spielen ist salonfähig geworden … und genau das ist das Problem. Es ist der Grund, weshalb ich Spiele wie mein geliebtes „NFS4“ nie wieder haben werden.
Früher ist es immer mein Wunsch gewesen, dass Videospiele irgendwann einmal so populär werden, wie sie es meiner Meinung nach damals verdienten zu sein. Fünf bis zehn Jahre später muss ich feststellen: Ich wünschte, ich hätte diesen Gedanken nie geäußert. Popularität in dem heute erreichten Ausmaß ist ein Fluch und kein Segen.
Denn weil heute jeder ein Spieler ist, haben sich die Industrie und ihre Konzepte geändert. Im Prinzip kann man niemanden dafür schuldig machen. So funktioniert freie Marktwirtschaft. Die Zielgruppe ist größer und breiter geworden – also muss man auch die Spiele verändern.
Weltenflucht
Dass diese Veränderungen aber mitunter solche hässlichen Blüten tragen können, konnte ich damals nicht ahnen. Voraussehen konnte diese Entwicklung vermutlich niemand. In der Folge sind Spiele nicht mehr das, was sie eigentlich sein sollten: Zufluchtsorte in andere Welten, liebevoll gestaltete und ausgearbeitete Kunstwerke – unangetastet von dieser mitunter grausamen realen Welt, in der wir alle Leben.
Anstatt beide Welten voneinander abzugrenzen, verschmelzen sie inzwischen immer mehr miteinander. Videospiele werden immer mehr Teil unserer Kultur, doch im Umkehrschluss übernehmen Videospiele auch immer mehr reale Aspekte aus unserer Kultur und Gesellschaft. In der Konsequenz wird dadurch keine der beiden „Welten“ schöner.
Um dazu noch einmal „Need for Speed: Brennender Asphalt“ als Beispiel zu bemühen: Das Einzige, was man dort aus der Realität wiederfand, waren die Fahrzeuge echter Hersteller – mehr nicht. Die Musik war nicht gecasted, die Strecken und Schauplätze nur vage an reale Orte angelehnt. Eine Parallelwelt ohne Marken-, Werbe- und Realitätswahn, in der nichts anderes Mittelpunkt war, als die Schönheit der exotischen Sportwagen, die sie bevölkerten. Als wären sie Lebewesen gewesen und die vielen Landstraßen und Autobahnen ihre Spielwiesen. Liebevoll wurden sie in Szene gesetzt, in eingesprochenen Videosequenzen vorgestellt. Sie waren der Star der Show, ohne jemals dabei aufdringlich zu wirken, gar anzugeben. Das Spiel hatte Understatement.
Die Seele an den Teufel verkauft
Wenige Jahre später war diese Weltanschauung bereits Vergangenheit. Die Illusion einer eigenen Welt wurde aufgegeben für den Lifestyle aus Fleisch und Blut. Mit „Need for Speed: Underground“ orientierte man sich stark an „The Fast And The Furious“ und dem aktuellen Tunertrend. Im Hauptmenü wurde man von der Musik eines ganz realen Lil John empfangen und „pimpte“ sein Auto mit den Teilen von realen Herstellern. Dass diese Zielgruppe nicht mehr viel mit der von „Brennender Asphalt“ zu tun hatte, wird schnell klar. Besonders weh tut da der Blick auf das Intro des vierten Teils, wenn man darauf achtet, wer damals noch den Spott abbekam.
Videospiele verlieren ihre Seele. Sie geraten zunehmend zu Profitobjekten der großen Publisher – ohne jetzt zu politisch zu werden. Aber das ist schließlich der Grund, weshalb immer mehr Marken, immer mehr Werbung, immer mehr Lifestyleaspekte involviert sind. Weil es sich besser verkaufen lässt. Damals konnte man es sich erlauben, im Intro eines Rennspiels den Nachbar von nebenan in seinem getunten Kleinwagen zu verprellen – der hat schließlich nicht gezockt.
Das hat sich geändert, und so ändern sich die Geschichten. Abgesehen von Fantasy-Genres kann sich heute niemand mehr erlauben, Traumwelten aufzubauen – auf Geschichten zu setzen, die nicht massentauglich sind. Stattdessen wollen wir immer mehr Realität, immer bessere Grafik, immer bessere Soundtracks mit echten Künstlern. „Video Killed The Radio Star“, sangen einst die Buggles, und ich fürchte, dass Geldmacherei gute Spiele getötet hat.
Beispiele lassen sich endlos fortführen: die Einführung von kostenpflichtigem Zusatzcontent, Werbung im Fernsehen und auf Plakaten oder das neueste Marketing-Monster „Battlefield 3“, mit seiner kommenden Verkaufsplattform „Origin.“ So etwas hätte es früher nicht gegeben, als Spiele sich noch sich selbst genug waren.
All diese Tatsachen lassen mich nicht um die Einsicht herumkommen, dass ich einer vergangenen Zeit nachtrauere. Wenn ich also am Ende meiner Fahrt angekommen bin und den Motor ausmache, wenn ich den Gurt ablege und den Schlüssel abziehe, wenn „Callista“ verstummt ist, dann bleibt nur ein trauriges Gefühl und ein Blick in eine dunkle Zukunft.
Denn ich bin depressiv.
Schlagworte: Battlefield 3, Brennender Asphalt, Call of Duty, Callista, Depression, FIFA, Game0ver, Games, Kolumne, Need for Speed, Nostalgie, Steven Rabe