Review: Alice: Madness Returns (Xbox 360)

Herrlich grotesker Genre-Mix ohne große Innovationen

Was geschieht, wenn ein Ort des Lachens und der Unschuld von Dunkelheit und Wahnsinn korrumpiert wird? Im Action-Adventure „Alice: Madness Returns“ präsentieren American McGee und Electronic Arts das legendäre Wunderland, wie ihr es mit Sicherheit noch nie gesehen habt.

Alice, was hast du getan?

Das erstmals 1865 erschienene Werk „Alices Abenteuer im Wunderland“ des britischen Schriftstellers Lewis Carroll gehört zu den bekanntesten Kinderbüchern der Welt. Es erzählt die Geschichte der kleinen Alice, die sich im Traum auf die Reise ins Wunderland begibt, einem fantastischen Ort, an dem nichts so ist, wie es scheint. Dass heitere Kindergeschichten auch wunderbar als Stoff für psychologischen Horror herhalten, stellte der Game-Designer American McGee bereits mehrfach unter Beweis. Carrolls Klassiker ist da keine Ausnahme.

Elf Jahre sind vergangen, seit die Eltern von Alice Liddell in einem Feuer umkamen. Da das Mädchen nicht in der Lage war, ihr dadurch entstandenes Trauma alleine zu überwinden, wurde sie in Rutledge’s Nervenheilanstalt eingewiesen. In ihrem Träumen zog sie sich auf der Suche nach Harmonie und Sicherheit in ihre eigene Welt zurück – das Wunderland. Allerdings blieb auch ihre Fantasie nicht von den Auswüchsen ihrer zerstörten Psyche verschont. Ihr Traumland wurde zum Albtraum. Im Vorgänger „American McGee’s Alice“ kämpfte sich die Titelheldin durch die düstere und makabere Wüste des ehemals so fröhlichen Wunderlands und schloss letztendlich Frieden mit dem Tod ihrer Eltern. Wegen ihrer Fortschritte wurde sie kurz darauf aus der Anstalt entlassen. Alles schien sich zum Guten gewendet zu haben. Bis jetzt.

Seit ihrer Entlassung wird Alice von einem ehrgeizigen Psychologen behandelt, der weniger an ihrer mentalen Stabilisierung, sondern an therapeutischen Experimenten interessiert ist. Durch ihn brechen in der jungen Frau Erinnerungen hervor, die vermuten lassen, dass jenes Feuer, das sie ihre Eltern kostete, doch nicht durch einen Unfall entstanden ist, wie sie bisher angenommen hatte. Wieder verspürt sie den Drang, ins Wunderland zu gehen, da sie mit dem psychischen Druck nicht fertig wird – nur, um zu entdecken, dass seine Transformation noch schlimmer ist als letztes Mal. Wird Alice jemals Frieden finden, oder bleibt sie für immer in ihrer ganz persönlichen Hölle gefangen?

Wunderbar bizarr

Wie sein Vorgänger ist „Alice: Madness Returns“ ein Genre-Mix aus Plattformer, Hack’n’Slash und Action-Adventure. Als Alice bewältigt ihr waghalsige Sprungpassagen und kleine Rätseleinlagen, während ihr euch durch die bösartigen Produkte eurer Vorstellungskraft schnetzelt. Mit Zähnen, die ihr von besiegten Gegnern erhaltet und an vielen Stellen im Wunderland aufsammeln könnt, lassen sich zudem Waffen und Fähigkeiten verbessern. Dies ist auch dringend notwendig, da die Anzahl der Feinde, die euch gleichzeitig auflauern, mit jeder Spielstufe merklich steigt.

Werdet ihr überwältigt und müsst zusehen, wie sich eure Energieleiste allmählich leert, habt ihr noch ein letztes Ass in petto: den Hysteria-Modus. Kurz vor ihrem Bildschirmtod verfällt Alice in einen unkontrollierten Blutrausch, der sich dadurch äußert, dass die gesamte Umgebung sämtliche Farben – mit Ausnahme von weiß und (blut-)rot – verliert und dem Spieler für kurze Zeit ermöglicht wird, wie verrückt auf alles einzuschlagen, was sich in Reichweite befindet. Auch das Aussehen unserer gepeinigten Protagonistin verändert sich entsprechend: Blutige Tränen laufen aus ihren rot glühenden Augen und ein klaffendes Loch befindet sich dort, wo ihr Herz sein sollte. Diese Transformation – eine von vielen – passt zugleich wunderbar zum restlichen Spieldesign.

Wer die (indirekte) Buchvorlage kennt, wird in „Alice: Madness Returns“ tonnenweise Referenzen darauf entdecken, die selbstverständlich ins düstere und oftmals äußerst obskure Gegenstück ihrer kindgerechten Variante verkehrt wurden. Der kranke Verstand von Alice ist zugleich euer größter Feind. Die verquere Entwicklung des Wunderlandes ist erfrischend unvorhersehbar und die Gestaltung der Spielwelt mindestens so gelungen wie bizarr. Besonders beeindruckt haben mich allerdings das Aussehen von deren Bewohnern.

Lange glaubte ich, kein Spiel würde jemals „Silent Hill 4: The Room“ übertreffen, was makaberes Charakterdesign anbelangt, American McGee war allerdings nah dran. Die Menschen in der realen Welt sind bewusst überproportioniert gestaltet und warten mit gigantischen Köpfen, Oberarmen oder Nasen auf, während die „Wunderländer“ keinen Zweifel am verwirrten Geisteszustand von Alice lassen. Es sei allerdings gesagt, dass „Alice: Madness Returns“ eindeutig kein „Silent Hill“ ist, da Subtilität beim Spieldesign definitiv nicht zu seinen Stärken gehört. Die ursprüngliche Vision von Lewis Carroll wurde bei jeder sich bietenden Gelegenheit aufgegriffen und „pointiert“, eine tiefer liegende Botschaft, die beispielsweise auf die Persönlichkeit oder Vergangenheit von Alice schließen lässt, gibt es kaum. Das sollte aber vermutlich auch gar nicht so sein, da es mehr um den grotesken Stil als um psychologische Analysen geht. Für ihr süß-feindseliges Charakterdesign verdienen die Entwickler jedenfalls Anerkennung.

Kein technisches Wunder

Weniger respektabel ist hingegen die Grafik. Die Unreal Engine 3 wurde zweifellos von der Konkurrenz schon besser zum Einsatz gebracht. Dabei hätte die Optik mit ein bisschen Feintuning sogar recht gut werden können – schöne Licht- und Wassereffekte und verwaschene Hintergrundtexturen geben sich hier die Klinke in die Hand. Hinzu kommen von der Unreal Engine 3 gewohnte Pop-Up-Probleme (Texturen laden manchmal erst, wenn man direkt vor dem zugehörigen Objekt steht; in diesem Augenblick sieht das Spiel aus, als würde es auf niedrigsten Grafikeinstellungen laufen), die bisher nur wenige Entwickler in den Griff bekamen.

Um die größte Schwäche von „Alice: Madness Returns“ aufzudecken, muss ich aber etwas weiter ausholen. Als „American McGee’s Alice“ erschien, war, neben einer Filmadaption, bereits von einem Sequel die Rede. Deises wurde dann aber für knapp zehn Jahre eingemottet, bis Electronic Arts den Titel 2009 plötzlich wieder hervorholte. Wieder wurde American McGee, der EA inzwischen verlassen und sein eigenes Studio (Spicy Horse) gegründet hat, mit Konzept und Spieldesign beauftragt, weshalb es nicht verwundert, dass „Madness Returns“ starke Ähnlichkeiten zu seinem Vorgänger aufweist. Genau das ist aber sein größtes Problem.

Trotz seiner Slasher-Elemente orientierte sich „American McGee’s Alice“ offenbar vorwiegend an einem Spiel, das während seiner Ära die Umsetzung von dreidimensionalem Plattforming geprägt hat wie kaum ein anderes: „Super Mario 64“. Leider demonstriert das fast inhaltsgleiche „Madness Returns“, dass was Ende der Neunziger noch zufrieden stellte heute nicht zwangsläufig noch genauso gut funktionieren muss. Die störrische Kameraführung und die unpräzise Sprungphysik sorgen speziell im späteren Spielverlauf für Frust. Auch die fummelige und manchmal überempfindliche Steuerung erweist sich als Störfaktor, was sich insbesondere auf das Kampfsystem auswirkt, wenn man einem Angriff wieder einmal versehentlich in einen anderen Gegner „ausgewichen“ ist.

Ein weiterer gravierender Makel ist das Leveldesign. Man könnte nun argumentieren, dass das Wunderland „irre“ ist und sich somit nicht an ein logisches Pacing zu halten braucht, allerdings sollte nicht vergessen werden, dass „Alice: Madness Returns“ vorwiegend ein Videospiel und kein künstlerisches Statement ist. Wenn man in einem Level länger nach dem Ausgang sucht, als man für die eigentlichen Sprung- und Kampfsequenzen braucht, läuft etwas falsch, da es kaum einen größeren Flow-Breaker als eine schlechte Wegführung gibt. Manchmal muss man beispielsweise mit der Pfeffermühle in herumfliegende Schweinsrüssel feuern, damit diese zum Niesen gebracht werden und sich ein neuer Weg öffnet. Diese verschmelzen aber häufig so „gut“ mit den häufig kontrastarmen Hintergrundtexturen, dass sie in der Ferne sehr schwer auszumachen sind. Zwar fand ich mich meist doch relativ rasch zurecht, was aber mit Sicherheit weder dem Leveldesign, noch der „grandiosen“ (weil kaum vorhandenen) Hilfestellungen des Spiels geschuldet ist.

Es wäre allerdings unfair, das Gameplay nur zu kritisieren, denn obwohl sich manche Level gegen Ende etwas ziehen, ist Abwechslung eigentlich meist gegeben. Ob man als geschrumpfte Alice mittels „Shrink Vision“ auf zuvor unsichtbaren Brücken Abgründe überquert oder winzige Türen passieren kann, auf dem heißen Dampf aus gigantischen Teekesseln durch die Luft segelt oder vor einer gigantischen Spielkarte flüchtet – langweilig wird es in „Alice: Madness Returns“ zu keiner Zeit. Genau dieser Umstand ist es auch, der einen trotz der technischen Verfehlungen und der konzeptionellen Makel vorwärts treibt (abgesehen von der Spielwelt natürlich, die zu sehen das Durchspielen bereits lohnt).

Liebend gern hätte ich an dieser Stelle noch etwas über die aufpolierte HD-Portierung von „American McGee’s Alice“ geschrieben, die Besitzern von „Alice: Madness Returns“ via Online-Pass kostenlos zugänglich gemacht wird. Leider lag dem Muster, das wir von Electronic Arts bekamen, kein solcher Code bei. Ich hätte den Download zwar für 800 Microsoft-Points (ca. zehn Euro) nachträglich kaufen können, tat es aber nicht, da ich das Spiel bereits kenne. Erstkäufer, die den Release der PC-Version im Jahr 2000 verpasst haben, bekommen dadurch jedenfalls Gelegenheit, sich selbst davon zu überzeugen, ob meine Kritik hinsichtlich der starken Ähnlichkeit zu seinem Nachfolger der Wahrheit entspricht.

Fazit, Sebastian Meinke

Mit etwas Politur hätte „Alice: Madness Returns“ ein echter Überraschungshit werden können, so verschwindet es allerdings spieltechnisch in der Mittelmäßigkeit. Das soll jedoch nicht heißen, dass es ein schlechtes Spiel geworden wäre. Die Grafik ist nicht perfekt, aber reicht aus, damit die schräge Welt des Wunderlandes die gewünschte Wirkung erzielt und an die etwas frickelige Steuerung und das chaotisch anmutende Kampfsystem hat man sich binnen 30 Minuten gewöhnt. Trotz seiner Mängel hat mir „Alice: Madness Returns“ gerade wegen seines außergewöhnlichen Stils gut gefallen, weshalb ich Freunden des Grotesken eine uneingeschränkte Kaufempfehlung gebe.

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