Angehörige der ehemaligen DDR-Führung haben bisher immer bestritten, dasses einen Befehl gab, der das Erschießen von Fahnenflüchtigen vorgab. Nun ist aber ein Dokument aufgetaucht, welches das Gegenteil beweist. Forderungen nach Ermittlungen derStaatsanwaltschaft werden laut, Politiker zeigen sich entsetzt.
Um den Umgang der DDR-Staatsführung mit Flüchtigen ranken sich seit jeher viele Spekulationen und beinahe schon Legenden. Von Schießbefehlen war da die Rede, die besagen, dass jeder,der den Versuch einer Flucht aus dem Land unternahm, auf der Stelle erschossen werden müsse. Angehörige der ehemaligen DDR-Führung bestreiten schon immer jedwede Existenz eines solchenDokuments. Zwar tauchten bisher einige Dienstanweisungen des Ministeriums für Staatssicherheit (Stasi) auf, diese schrieben den Gebrauch der Waffe aber immer nur als letztes Mittel nachvorhergegangenen mündlichen Warnungen und Warnschüssen vor. Auch das DDR-Grenzgesetz von 1982 sah den Waffeneinsatz nur für den absoluten Notfall vor.
Nun entdeckte man in der Magdeburger Außenstelle der Stasi-Unterlagenbehörde den expliziten Schießbefehl für eine Spezialeinheit der Stasi, die von 1968 bis 1985 bestand. DerBefehl fand sich in den Akten eines Unterfeldwebels, der von 1971 bis 1974 in dieser Einheit eingesetzt wurde. In der mehrseitigen Dienstanweisung, ausgegeben am 1. Oktober 1973, findet sich diePassage, die an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig lässt: „Zögern Sie nicht mit der Anwendung der Schusswaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüchemit Frauen und Kindern erfolgen, was sich die Verräter schon oft zunutze gemacht haben.“
Das Auftauchen einer solchen Anweisung löste quer durch die Bundesrepublik Bestürzung und Empörung aus. „Der Fund des Schießbefehls demonstriert in erschreckenderWeise wie menschenverachtend dieses System war“, sagte der CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla der Zeitung „B.Z. am Sonntag“. Auch die Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen, MarianneBirthler, unterstrich die Bedeutung dieses brisanten Dokumentes. „Der aufgefundene Befehl ist eine Lizenz zum Töten“, hieß es von Hubertus Knabe, Leiter derGedenkstätte für Stasi-Opfer in Berlin-Hohenschönhausen. Er fordert die Staatsanwaltschaft auf, Ermittlungen gegen die Verantwortlichen einzuleiten, da der Befehl durchaus alsAnstiftung zum Totschlag oder sogar Mord gesehen werden könne. Selbst eine unmittelbare Tatbeteiligung könne so nicht ausgeschlossen werden. Bisher musste von 91.000 Stasi-Mitarbeitern nureiner wegen seiner Vergehen ins Gefängnis.
Bereits in der Vergangenheit tauchten Dokumente auf, wonach sogenannte Einzelkämpfer zum Töten ausgebildet wurden, erzählt Knabe. Dabei soll es sich aber immer nur um Gedankenspielefür den Kriegsfall gehandelt haben. Der jüngst aufgefundene Schießbefehl sei aber für den normalen Alltag gedacht gewesen. Die Stasi-Offiziere waren dabei als normaleGrenzsoldaten „getarnt“.
Durch den Fund dieses Schießbefehls wird klar, dass die Aufklärung der DDR-Vergangenheit noch lange nicht abgeschlossen ist. Dass gerade in Zeiten der Unklarheit über die weitereArbeit der Stasi-Unterlagenbehörde solch brisante Informationen auftauchen, kann beinahe als Hilfe in letzter Minute angesehen werden. Die Gunst der Stunde muss von Politik und Gesellschaftdafür genutzt werden, die Aufklärung über die jüngste deutsche Geschichte zu fördern und voran zu treiben, denn bis heute ist der Umgang der ehemaligen DDR mit ihrem eigenenVolk noch immer nicht geklärt.
Der Tag des Mauerbaus jährt sich am 13. August zum 46. Mal. Die Mauer wurde am 13. August 1961 in einer Nacht- und Nebelaktion hochgezogen und trennte Deutschland für mehr als einVierteljahrhundert. Mehr als hundert Menschen ließen bei einem Fluchtversuch ihr Leben. Erst am 9. November 1989 fiel die Mauer und läutete den Niedergang der DDR ein.
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Behörde für Stasi-Unterlagen