Kommentar: Medien und Amok

Dank Medien sind Schulamokläufe ganz Deutschland in allen Details bekannt: Bilder von Scherben, Sondereinsatzkommandos der Polizei und Blaulichtautos, später Kerzen und Kinderfotos. Dazu Informationen zum Täter, seinen Waffen sowie angeblichem Motiv und Auslöser – reißerische Quotenjagd und Beihilfe für Nachahmer.

Einsatzkräften der Polizei rast das Herz, während sie mit gezogener Waffe den Täter suchen oder sich für den Zugriff vorbereiten. Rettungsmannschaft über Rettungsmannschaft sammelt sich in sogenannten „Bereitstellungsräumen“. die Besatzung macht sich auf schwerst verletzte Kinder gefasst, der leitende Notarzt betet, dass er nicht entscheiden müssen wird, welches Kind zuerst behandelt wird.

Und die Medien? Sie berichten von Waffentypen und Munitionsmengen, von der dramatischen Lage und den leidenden Kindern. Und alle wollen Bescheid wissen. Die Medien versuchen, das dramatische Bild zu fangen. Reporter und Kameramänner stehen im Weg, gefährden sich, belästigen die Einsatzkräfte – immer pochend auf ihr Recht auf Informationen. Viele Einsatzkräfte sind von der massiven Medienpräsenz zusätzlich gestresst. Zu Recht fragt man sich, warum es für die Medien so wichtig scheint, ganz vorne zu stehen und zu dokumentieren, wie Jugendliche aus ihrer Schule rennen. Wichtig sind doch erst einmal nur grundsätzliche Informationen: wo, welche Schule, wie viele Schüler befinden sich noch in Gefahr oder sind vielleicht schon verletzt. Alles darüber hinaus soll von der Konkurrenz absetzen, hilft aber niemandem außer dem Medium selbst.

Knackpunkt Suizid

Szenewechsel. Der 16-jährige Peter hat gerade 200 Schlaftabletten von seiner Mutter geschluckt, weil seine Freundin Schluss gemacht hat. Er würgt und bricht, verschluckt sich am Erbrochenen, das Bett in dem er liegt, stinkt gewaltig. Als die Rettungskräfte eintreffen, atmet er kaum und ist tief bewusstlos. Es brodelt beim Atmen. Die Eltern stehen still im Zimmer, gucken zu und weinen, während das Team alles tut, was in einer guten Arztserie nebenbei passiert: Zugang, Intubation, Medikamente, Absaugen, Magensonde, EKG, Vitalwerte erfassen.

Alle 47 Minuten stirbt in Deutschland ein Mensch durch Suizid. Alle 40 Sekunden stirbt weltweit ein Mensch durch Suizid. Alle 4 Minuten begeht ein Mensch in Deutschland einen Suizidversuch. In anderen Größen: Mehr als 10.000 Menschen sterben in Deutschland jedes Jahr durch Suizid. Weltweit geht man von 877.000 Menschenleben jährlich aus (Zahlen für 2002, JAMA,WHO).

Aufmerksamkeit fördert Nachahmer

Die Medien berichten davon nicht, weil die Sorge groß ist, dass entsprechende Berichte Nachahmungstaten zur Folge haben könnte. Und mal ab davon ist es natürlich auch schwer, mit einer Kamera zum richtigen Zeitpunk in eine private Wohnung einzudringen. Ansonsten gäbe es bestimmt Medien, die auch vor solchen Bildern trotz sozialer Verantwortung nicht zurückschrecken würden.

Wenn man aber weiß, dass das Berichten von Jugendsuizid zu Nachahmungen führen kann, wieso wird so brutal von den Amokläufen Bericht erstattet – besonders wenn diese doch auch in den meisten Fällen im Selbstmord enden?

Alles für die Quote

Boulevardblätter haben gezeigt, dass die Menschen entsetzliche Nachrichten mit großem Interesse verfolgen. Man könnte meinen, wenn Blut in den Nachrichten zu sehen ist, war es in Augen bestimmter Medien ein guter Bericht. Im ständigen Kampf um Zuschauer schreckt die Presse immer weniger zurück vor grausigen Bildern, trauernde Familien und heulende Einsatzkräfte.

Auch bei Aktenzeichen XY wird eine trauernde, flehende Familie gezeigt, die um das Leben von Maria Bögler bettelt. Das wird richtig im Sendeformat verankert, ein Tag später berichtet auch die BILD mit Bildern aus der Sendung. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass die Polizei dieses Vorgehen für sinnvoll hielt, aber Aktenzeichen hatte dafür wahrscheinlich eine super Quote.

Zurück zur Verantwortung

Unabhängig von den möglichen Nachahmern und dem Vorgehen der Presse drängt sich immer auch die Frage auf, wie viel Information man als Außenstehender wirklich braucht. Wo zieht man selber für sich den Strich und sagt: „Das geht mich nix an, ich würde auch nicht wollen, dass so mit mir umgegangen wird“. Viele Schüler nach den Amokläufen gaben an, dass die Kameras sehr störten, dass sie nicht fassen konnten, wie aufdringlich die Presse war.

Ich für meinen Teil glaube es den Medien, wenn sie von Toten, Verletzen, und stark geforderten Einsatzkräften sprechen. Ich muss mir Leichen nicht im Fernsehen angucken; auch keine weinenden Schüler und Eltern, Blut und Einsatzkräfte, die so einen Tag nicht wieder vergessen werden – besonders dann nicht, wenn diese Bilder auf Kosten der bereits geschundenen Personen entstehen. Aber das interessiert die Medien nicht. Die schlachten das Thema aus und morgen geht es dann weiter mit Wahlen und der WM.

Bild:
Wikipedia.org

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